Leseprobe - PROLOG:

Gott, hilf!

Antworte! Was ist in der anderen Welt?

Strafe mich nicht. Entziehe dich nicht. Rede mit mir! Zeig, dass es dich gibt! Ich könnte schreien in meiner Einsamkeit! Was bin ich denn ohne dich? Ein endliches Nichts, welkendes Laub im Herbst meiner Tage. Siech auf der Suche nach rettender Nähe zu dir!

Schau, da sitze ich, voller Verzweiflung am steilen Hang, gegenüber die Burg meiner Heimat, am Fuße des Felsen, an dem ich die schönsten Tage meiner Kindheit verbracht habe. Ich muss zusehen, wie das Wasser des Flusses das Tal gräbt, wie die Jahre meines Lebens zerrinnen. Kahl die Bäume des Waldes umher, kalt die Sonne bereits, berge ich den Kopf zwischen den Knien. Ich will das alles nicht mehr mit ansehen müssen. Diesen Verfall! Das ständige Um- und Umwälzen der Gestalten, die unaufhörlichen Veränderungen, nichts bleibt wie es ist. Kein Stein im Gebäude ruht ewig auf dem Anderen, alles vergeht, selbst die Steine zerfallen zu Staub, um im nächsten Augenblick wieder zu Felsen gebacken zu werden. Und ich – dazwischen, zermahlen!

Wenn es dich gibt – höre mein Entsetzen! – Hörst du? Betäubt vom Frost ist die Natur, bist auch du taub? Was nützt alles Beten und Betteln, wenn du nicht hörst? Oh glaube nicht, dass das Leben am Abgrund spaßig ist! Aber etwas Besseres als den Tod – das will ich gerne finden.

Das Leben am Abgrund. Ich lebe in Saus und Braus. Trällere lustig Liedchen. Und im nächsten Augenblick trifft mich der Blitz. Aus und vorbei.

Im Chor neulich. Es war schön in der Gemeinschaft mit den Anderen zu singen. Weihnachtslieder. Die Liebe in der Gemeinsamkeit zu spüren. An jenem Abend war ich mit dem Motorrad gekommen, weil mir unser Auto nicht zur Verfügung stand. Während der Probe fiel sehr schnell Nebel auf die eisigen Straßen. Glätte kam auf. Sie haben mich eindringlich gewarnt. Ich solle nur aufpassen.

Und dann war da meine Angst. Nein, ich hatte keine wirkliche Furcht, ich könne stürzen und mich verletzen. Es war die Angst der Nacht, die mich umschlierte. Die Vorwegnahme des tödlichen Erschreckens, das den letzten Atem stocken lässt. Die Angst, die die Angst zu verhindern sucht. Die Angst, in wenigen Minuten tot zu sein, lebloser Körper, blutend, erkaltend, erstarrend, zerfallend. Die vollkommene Unfähigkeit, mir vorstellen zu können: Was ist in zwei Minuten, wenn ich tot bin?

Verstehst du? Die Mauer. Diesseits hier. Und dort das Jenseits. Dazwischen die Mauer, hauchfeine Membran und schiere Undurchdringlichkeit zugleich. Die ultimative Einbahnstraße, alles geht hindurch, nichts kommt wieder zurück.

Mal ehrlich. Kannst du dir vorstellen, dass ich da schon gerne gewusst hätte, was mich erwartet?

Jetzt rede endlich. Verdammt nochmal, sprich das Wort, du weißt schon, was ich meine, sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund. Ich bin dessen würdig! Oder?

Ja.

Ja?

Selbstverständlich bist du würdig.

Dann sag, wie wird es dort sein? Jenseits der Mauer?

Über das Jenseits lässt sich nichts sagen.

Aber es ist? Sag wenigstens das: es ist.

Nicht einmal das lässt sich wahrheitsgemäß sagen. Man kann nur nichts sagen. Über das Diesseits lässt sich alles sagen, über das Jenseits nichts, und wenn alles über das Diesseits gesagt sein wird, wird alles über das Jenseits gesagt sein, und nichts.

Aber warum?

Das ist leicht. Wenn du etwas über das Jenseits sagen würdest, wäre es nicht mehr jenseitig, sondern diesseitig und du hättest eine Aussage über das getroffen, was jetzt hier ist.

Aber immerhin, du redest mit mir. Das ist eine ungeheure Erleichterung.

Hattest du den geringsten Zweifel, dass das möglich sein könnte? – Erhebe deinen Blick. Was siehst du?

Die Burg auf der anderen Seite, ein paar Touristen auf dem Turm, Flecken von Winterjacken heben sich gegen den stahlblauen Himmel ab. Graues Geäst darunter, silbernes Glitzern des Flüsschens in der Ferne.

Lege deine Hände neben dich, was fühlst du?

Es ist das Laub, auf dem ich hocke. Kalt, etwas feucht. Es riecht leicht moderig. Ich bringe es zum Rascheln. Ich kann einen Buchecker spüren.

So öffne ihn, lege den Kern auf deine Zunge, und du wirst mich schmecken, wir werden eins, wenn deine Zähne ihn zermahlen und dein Magen ihn aufgenommen hat.

Das alles sind Worte aus meinem Wortschatz, und meine Sprache ist so vielfältig, wie all das, was um dich ist. Selbst du bist eine Vokabel, mit der ich unaufhörlich zu dem spreche, was nah und fern ist. Aber es gibt kein Wort, mit dem sich das Jenseits beschreiben ließe. Keines. Denn das Jenseits ist das Andere, es ist das Unbeschreibliche, das sich genau dann dem Auge als Jenseits entzieht und zum Diesseits wird, wenn sich sein Blick auf es richtet, und selbst dieses ist schon zuviel gesagt.


Und du, der du mit mir sprichst? Gehörst du zum Jenseits oder zum Diesseits.

Wir sind alles.

Und was tust du so die ganze Zeit, wenn Du, wie du sagst, alles bist?

Wir betrachten diese Welt und murmeln.

Oh wie schön! Und was hat das mit mir zu tun? Welche Aufgabe habe ich dabei?

Du betrachtest und murmelst.

Nein! So will ich das nicht. Ich meine … es ist ja schon ein ungeheurer Fortschritt, dass wir miteinander sprechen können. Es ist irgendwie beruhigend. Nur, so wie das jetzt abläuft, so will ich das nicht. Das ist … mit Verlaub … doof. Es bringt nichts. Also Kommunikation sollte, so sie denn stattfindet, was bringen. Und so bringt das einfach nichts. Also wenn ich eine Frage stelle, dann hätte ich gerne eine richtige Antwort darauf. Wahrheit. Eine mit der ich was anfangen kann, eine, die ich verstehe. Ich „betrachte und murmele“ – quatsch!

Du möchtest Klarheit haben.

Ja. Übersetze bitte, so dass ich dich verstehen kann.

Okay. Dann höre du jetzt zu!
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